Überlastete Sicherungen in Europa

07 November 2015
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Wenn Europa die Sicherungen durchbrennen

Es kann vorkommen, dass man mitten in der Nacht aufschreckt und mit klopfendem Herzen denkt: „Ich muss diese Kolumne neu schreiben.“ Es ist kurz vor fünf Uhr und man weiß genau, dass es ungut ist, nun aufzustehen, weil man dann den ganzen restlichen Tag ein grantiger, unbrauchbarer Mitmensch ist. Ruhige Musik, denkt man sich, und die vielfach empfohlene heiße Milch, denkt man sich, die werden mich in Morpheus Arme zurücktreiben. Am nächsten Tag stellt man fest, dass der Rücken panzerartig verhärtet ist. Schildkrötengleich bewegt man sich zum Arbeitsplatz. Und wenn man später überdies den Terminkalender nicht mehr finden kann, um einen Termin zu vereinbaren, obwohl man den Kalender vor zwei Minuten noch in der Hand gehalten hat, und zum zehnten Mal die leere Kaffeetasse zum Munde führt, ist das der Zeitpunkt, um sich einzugestehen: „Ja. Ich bin ein wenig überarbeitet.“

Das ist gefährlich. Ein überarbeiteter Mensch schafft nix oder bringt oft dann nur wenig Sinnbildendes zustande. Man sagt auch Singlosigkeit oder verhält sich so, als ob man von Joachim Hermann, Innenminister bei einer Partei namens CSU, in Sachen Anstand erzogen worden wäre. Überarbeitet scheinen demnach auch Akif Pirinçci, Katzenkriminalist und Populist, sowie CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer zu sein. Und zwar für zehn. Akif P. Ist freilich noch eine ganz andere Hausnummer als der Scheuer. Dieser „Autor“ hat ja ganz offen flüchtende Menschen und die „KZs“ als Lösung in Verbindung gebracht.

Scheuer klingt dagegen bescheidener, fast schon philosophisch: „Wir müssen dazu kommen, dass wir nicht nur eine Willkommenskultur pflegen, sondern kommen mit den Rückführungen und Abschiebungen zu einer angemessenen Verabschiedungskultur.“ Und: „Das einzige, was wir in dieser chaotischen Situation nicht haben, ist Zeit und Geduld.“ Und dieser Mensch hat tatsächlich auf seinen Doktortitel verzichtet! Nur aufgrund eines kritischen Zeitungsberichts. Das hat Stil – welchen ist mittlerweile auch klar. Jedenfalls warnt der Scheuer uns vor „Überforderung“. Nun, denkt man sich, der Mann weiß offenbar wie es ist, wenn die die eine oder andere Sicherung durchbrennt und er mit dem Wort „angemessen“, beim erzwungenen Abschied, fröhlich jongliert.

Gut, denkt man stöhnend, die gesamte Regierung braucht wohl einmal Urlaub. Vielleicht für immer. Denn es scheut sich ja ein Horst Seehofer kein bisschen davor, sein Land verbal „bis zur letzten Kugel“ und mit „Notwehr“ gegen Menschen, die auf der Flucht sind, zu beschützen.

Wie kann man sich dem entziehen? Wie kann man seine nervenkranken Gehirnwindungen beruhigen? Vielleicht mit Kunst? Politischem Kabarett?

Nein! Kabarett, erfährt man im SZ-Artikel mit dem Titel „Dumm zu sein bedarf es wenig“ (von Burkhard Müller), Kabarett gelte zu Unrecht als Mittel gegen schlimme Zustände und Menschen. Der berüchtigte Spiegel, den man Herrschern vorhalten will, ist gemäß dem Artikel blind. Den Kabarettisten vergleicht er mit dem Gymnasiasten, der gegen den Lehrer „Löcke“ anstinkt. Allerdings brauche der Gymnasiast das Gymnasium. Und richtig: Bloß weil einer frech wird, entfernt man noch lange nicht den Lehrer. Beziehungsweise: Der Lehrer wird kein anderer. Wenn nur einer frech die Zunge bleckt, wird man diesen ignorieren oder abstrafen. Und das Volk, mei, das will aber gerne blecken lassen. Es will, dass sich ein Bühnenmensch über einen Seehofer lustig macht, so dass man noch über Patronensätze lachen kann. So zur Entspannung.

Ich widerspreche dem Autor allerdings in dem Punkt, dass es keine politischen Gegner für das Kabarett mehr gebe. Gut, die meisten können uns nicht einmal mehr gut belügen. Trotzdem: Was sich unsere Politiker an Fehltritten und Blödheiten in der letzten Zeit geleistet haben, geht auf keine Kuhhaut. NSA, BND, Rammstein, Waffenlieferungen (die den Strom der flüchtenden Menschen mitverursacht haben), TTIP, Griechenland … Die Liste ist lang und deprimierend. Und wenn man nicht darüber spricht, die Öffentlichkeit alle fünf Minuten von neuen Meldungen überrollt wird, reflektiert dies alles nicht mehr. Doch Reflexion ist wichtig. Um zu lernen. Um Gefahren entgegen zu wirken.

Allerdings erfährt man im Artikel leider nicht, wie man richtig gegen Missstände ankabarettisieren sollte. Eine handfeste, reale Revolte, samt Brandsatz und Guillotine, hat mit Kabarett nur als Folge etwas zu tun. Sprich: Das Kabarett stünde vor der Revolution. Allerdings gehen (Bildungs)bürger ins Kabarett, um sich beruhigen zu lassen. „Schau! Da vorn steht einer, der es uns sagt! Der dagegen ankämpft. Wir können morgen wieder auf der Couch relaxen, bis uns die neoklassische Musik zu den Ohren rausläuft.“ Das Kabarett könnte also sogar ein Bremser sein.

Fein, denkt man sich, infolge dessen sollte man aufhören, den Hofnarren zu geben. Überarbeitet ist man eh, denkt man sich, da wäre dies eine Erleichterung.
Jedoch übersieht man hier, dass ohne Kabarett „der Deutsche an sich“ noch schneller verblöden und verrohen würde. Wenn man nur noch sexistische und rassistische Sparwitze hört, meint man ja, dies, das totale Deppentum, sei normal. Dagegen spielt das Kabarett an. Zudem gebiert die Dummheit ganz gefährliche, hässliche Kinder.

Fremdenhass zum Beispiel, der zu so etwas wie PEGIDA führt. PEGIDA stellt einem, wie Akif P., wiederum eine Bühne zur Verfügung. Die Dummheit der Masse ermöglicht erst die Seehoferei, die Hermanesken und auch, ohne dies vergleichen zu wollen, die Gewalttaten gegen Flüchtlinge.

Der kleine Bruder des Fremdenhasses ist das Vorurteil. Man lacht gern übereinander. Der Deutsche erzählt Österreicherwitze, der Österreicher erzählt zurück. Wunderbar. Jedoch kommen wir wieder auf den obigen Gedanken: Wenn Witze blöde sind, feindliche Stimmung statt gute Laune erzeugen, wenn der Witz des Pudels Kern ist, wird es ungemütlich. Deshalb brauchen wir ein politisches, intellektuelles Kabarett und nicht nur Comedy.

Die Vorurteile werden immer lauter. „Der Slowene an sich“ gilt nun als Urheber, dass Flüchtende die Grenzen „überrennen“. Wobei ich in meinem Leben lediglich besonnene, vernünftige und freundliche Menschen in Slowenien getroffen habe. Aber Deutschland plärrt, dass die Österreicher zu viele Menschen ins gelobte Land schicken, Österreich plärrt: „Nein, das sind die Slowen!“ Und dann schreien alle laut im Chor: „EU! Hilf!“

Aber die EU ist überarbeitet. Ihr schönes Staatengebilde "Europa hängt" wie ein alter Flickenteppich über einem Zaun, gezeichnet von Gebrauchsspuren, Brandlöchern und vielen, ekelhaften braunen Flecken. Die EU hockt mit rot-geäderten Äuglein feist auf ihrem Selbstgerechtigkeitsthron daneben, in der einen Hand eine Spendenkasse für die Parlamentarier, in der anderen einen windigen Zettel auf dem schlecht leserlich, in „altdeutscher“ Schrift steht: „Europa ist geil!“

Nein. Ist es nicht. Es ist überfordert und gehört überarbeitet. Sonst zerfällt dieser Teppich. Man könnte ihn erst einmal waschen. Dann schön ausbürsten, die Brandlöcher behandeln und schließlich an einem schönen Platz neu ausbreiten, so, dass jeder ihn sehen und betreten kann. Dafür muss freilich die EU in den Kartoffelkeller, sonst kommt keiner.

Aber wer hat dafür gerade die Zeit? Man selbst wohl kaum, denkt man sich gähnend. Man könnte höchstens, denkt man sich, einen Text darüber schreiben. Der wieder, wie Herr Müller vielleicht sagen würde, nix bringt.

Vielleicht sollten wir mal alle in die Ferien fahren. Die gesamte Menschheit! Und wenn wir zurückkommen, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. - Ein seltsamer Gedanke? Oder bin ich doch nur sehr übermüdet von all den selbstgerechten Sprüchen, die stündlich bei mir einschlagen?

Andrea Limmer

Freie Journalistin

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