Lustfeindlichkeit - Disziplinlosigkeit - Fettleibigkeit: Modeworte der Einsamkeit?

01 Juli 2013
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Keine Lust – aber dafür Null Bock

Die Lustfeindlichkeit ist auf dem Vormarsch. Nein, stimmt nicht. Die Lustfeindlichkeit schwenkt längst ihr Rohrstockzepter über diese Gesellschaft. „Ich hab Lust auf ...“, ist fast vollkommen aus unserem Sprachgebrauch verschwunden. Lust wird mit Sex gleichgesetzt. „Ich hab keine Lust“, sagt man dagegen oft. Keine Lust auf einen spontanen Ausflug, auf Spaß allgemein, auf ein bisschen Nachdenken, auf Liebe. Und es gibt genug Menschen, die keine Lust auf die Lust mehr haben und sich trotzdem hinlegen und den anderen über sich ergehen lassen. Einfach, weil die Unlust auf Sex gleichgestellt mit Versagen, Erfolglosigkeit ist. Es geht nur um Sex. Liebe, Verlangen und Zufriedenheit sind unnötig und machen nur Ärger in dem großen Plan uns zu kleinen, folgsamen Lemmingen zu erziehen.

Für die nachwachsenden Menschenrohstoffe gestaltet es sich immer schwieriger, sich der eigenen Lust und dem eigenen Körper bewusst zu sein. Jedes Haar wird abrasiert, weder wegen einem Körpergefühl noch wegen einem eigenen Gedanken, sondern weil Haare, die vom Kopf mehr als zehn Zentimeter entfernt wachsen, laut Modeindustrie hässlich sind. Und diese glattrasierten Körper, die mit dem Körper von Erwachsenen kaum mehr etwas zu tun haben wollen, hüllt man in Klamotten, die „verschönern“. Der natürliche Zustand eines Menschen, sagen Heidi Klum und die anderen Blitzlichtableiter, ist kein guter. Er muss verändert werden. Wer genießt – überhaupt: woher kommt dieses „genießen“? Genießbar nennt man Schwammerl, die ungiftig sind, aber wohl kaum die Krönung an Geschmack. 9db016b9518a4c98baaad4cfcb7274a1

Also: Wieder Modewort, um etwas zu brandmarken, um uns allzeit vor Augen zu führen, was wir tun, weil wir zu doof sind, um das zu merken. Wer … Wer etwas tut, auf dass er total Lust hat, das aber keinen sichtlichen Zweck außer dem eigenen Wohlempfinden hat, der lässt sich in den Augen der Gesellschaft gehen. Und der ändert sich höchstens zum Schlechteren, denn aus so einem Genuss wird doch gleich – Kreisch! - eine Sucht! Wegen den Botenstoffen im Hirn, die uns für Rauchen (Mord! Mord!), Saufen (Selbstmord! Selbstmord!), Fressen (Disziplinlosigkeit! Disziplinlosigkeit!) und Schnackseln belohnen.

Mit der Genveränderung würde man hingegen positive Ergebnisse erzielen. Denn das Gen, das böse, böse Gen ist ein Arsch und Schuld an unserem Übergewicht, an unseren Süchten. So jedenfalls erklärt es die aktuelle Forschung. Vor ein paar Tagen ist auf Arte eine Dokumentation über trinkende Tiere ausgestrahlt worden. Und wie die Tiere trinken.

Zum Beispiel das Federschwanzhörnchen. Das kippt in einer Nacht vergorenen Nektar mit 3,8 Prozent Alkohol weg wie nix. Und es bleibt nüchtern. Sein Stoffwechsel arbeitet eben anders als der menschliche. Aber das nur nebenbei. Was bei der Doku herausgekommen – oder vielmehr herausgestellt worden ist, zum Beispiel anhand von alkoholkranken Fruchtfliegen: Die Alkoholsucht liegt in den Genen begraben. Denn nicht alle Fruchtfliegen sind Sprittis geworden. Und auch Fettleibigkeit: Gene. Nikotinsucht: Gene. Schönheit: Gene. Vielleicht fängt man bald wieder an, unsere Köpfe zu vermessen, damit man die Kriminellen gleich erkennt. Vielleicht pflanzt man uns auch das Federschwanzhörnchen-Gen ein oder mischt es uns in den Frühstückssaft, damit wir auch nach der fünften Runde noch die Tabellen für Schmidt fertigstellten können. Dass Freude am Trinken kein bisschen etwas mit Saufen, also viel trinken, zu tun hat, schiebt man hier beiseite. Es geht um? Richtig: Quantität.

Wenn wir auf etwas Lust haben, müssen wir das heutzutage laut in die Runde sagen, ein wenig beschämt lächeln, dann zum Beispiel ein Stück Kuchen („Aber wirklich nur ein kleines, ganz kleines Stück!“) verzehren und uns hernach in Scham, Reue und Sühne winden („Gott sei Dank gehe ich heute noch ins Fitness.“).

Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer erklärt auf „Zeit Online“: „Der Körper fordert ein, was er braucht. Wäre es anders, gäbe es keine erfolgreiche Evolution.“ Insofern wenden wir uns mit jeder Diät, jedem Verzicht gegen die Natürlichkeit. Wollen wir künstlich werden? „Bessere“ Menschen? Übermenschen? Die normale Bedürfnisse ignorieren, weil Nahrung, Luft und Liebe unnötig für sie sind? Poller erklärt weiter: „Ich glaube, das hängt mit unserer protestantischen Vergangenheit zusammen. Es wird hinter jeder Freude eine schlimme Versuchung gesehen. Aus dieser Ecke kommen viele der aktuellen Warnungen. Es ist egal, was die Leute essen oder trinken, aber sobald sie dabei Vergnügen empfinden, ist es natürlich ungesund.“

Nahrung, die wir einfach brauchen, um zu überleben, und die darüber hinaus erfreulicherweise gut schmeckt, steht bei uns für die Versuchung, für den Apfel aus dem Garten Eden. Und der Hunger ist die Schlange, der Teufel.

Wir haben längst begonnen, Nahrung, Medien und Unterhaltung anders zu behandeln. Wir essen nicht mehr, wir konsumieren Lebensmittel. Und wie u. a. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner nicht müde wird zu betonen, sind Lebensmittel „Mittel zum Leben“. Nix mit „gut schmeckt‘s“, nö, die Arbeitsenergie soll aufgeladen werden. Aber bitte: gesund!

Aigner „outet“ sich derweil in einem Supermarkt in Gladbach als Fan von gesalzenen Erdnüssen (das ist der „Westdeutschen Zeitung“ immerhin einen Zwischentitel wert), was ihrer Meinung nach nicht „so gesund“ ist. Warum sollten Nüsse nicht gesund sein? Warum sollte Salz nicht gesund sein? Warum sollte man eigentlich überhaupt nur essen, was gesund ist? Wer schreibt uns das vor? Unser Magen bestimmt nicht, nein. Und auch ein Arzt würde sich nie zwischen mich und meine Erdnüsse stellen. Der Staat ist der große Inquisitor. Der Verfolger von allem was man gern möchte.

Mit einem riesigen Aufwand an Propaganda will er uns dermaßen verbiegen und verdrehen, dass wir nur noch so viel und das essen, was uns möglichst leistungsfähig hält – und zwar in den neuen Berufen. Deshalb ist auch ein Glas Wein zum Mittagessen längst verpönt. Gut, wer trinkt schon gern Wein zu einem fettarmen, glutenfreien Weizenkleie-Brunnenkresse-Bagel?

Und während diesem ganzen Wahnsinn verkommt das Fleisch langsam zum Nahrungsmittel der „Unterschicht“. Die „Oberschicht“ mag keinen Gammelhammel mehr in sich hineinmampfen. Die anderen haben halt keine Wahl. Und die Wahllosen konsumieren überdies ein Fleisch von Tieren, die nun seit Jahren genveränderte Pflanzen fressen. Die Körper von entsprechenden Sauen verändern sich dabei. Forscher aus Adelaide haben festgestellt, dass sie häufiger an Magenentzündung leiden und sich schlechter vermehren als die normal gefütterten Säue. Was passiert nun, wenn der Pöbel ausschließlich solches Fleisch isst? Weniger Pöbelkinder? Weniger Lebensjahre? Weniger Staatskosten für Renten etc.?

Die Freude soll uns aberzogen werden. Wer sich erfreut, der ist nicht konzentriert, nicht ernsthaft genug. Freude darf höchstens noch in Form von einer Belohnung nach harter Arbeit erlebt werden. Zum Beispiel der All-Inklusiv-Urlaub, wo man sich zwei Wochen lang am Pool den Wanst mit Schrimps vollschaufelt und außer der Hotelanlage nur die Bar und das Buffet sieht.
Wegen der strengen, lustfeindlichen Staatsgängelung wollen wir zwar ständig Hamburger und Alkohol, aber wir trauen uns nicht mehr. Die Folge: Wir ordern und bedanken(!) uns für „Jever Fun“ oder Hamburger, die mehr Ähnlichkeit mit Obstsalat haben als wie mit einem Hamburger. Freilich ist es gut, über das nachzudenken, was man sich in den Rachen schiebt. Aber doch nur zwecks der Qualität. Doch Qualität ist out, fällt in den Bereich Genuss, Quantität ist in – alle zu Aldi.

Es geht hier nicht darum Burger oder Wurst zu bewerben. Es geht darum, dass man sich nichts verbieten lassen soll. Weil es unser Körper und unser Leben ist.

Es wäre traurig, würde in diesem Feldzuge die Freude am eigenen Körper und an der Liebe vollständig ausgerottet. Aber es könnte leicht passieren. Denn wie sollen wir uns der Lust auf Liebe und Leben hingeben, uns darüber bewusst sein, wenn von außen her so hart an uns gearbeitet wird, dass wir dergleichen wegsperren oder es uns wegsaufen/wegmedikamentieren? Wir sollten uns nicht verarschen lassen, von dem Wort „gesund“ und dem neuen Gesundheitsfaschismus.

Es ist ganz einfach: Liebe ist für die Wirtschaft unproduktiv. Außer man gebraucht sie rein zum Erschaffen von neuem Humankapital. Genuss ist für die Wirtschaft unproduktiv. Außer man gibt viel Geld für die „richtigen“ Lebensmittel aus. Sich Zeit nehmen, ist für die Wirtschaft unproduktiv. Außer man füllt sie mit Gedanken und Handlungen, die die Arbeit betreffen.

Doch Arbeit ist für das Leben destruktiv. Sie verkürzt die Lebenszeit. Und sie bringt uns, den Arbeitern, rein gar nichts.

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